Erlebnis-Sofa gegen Komfortzone

Haben Sie eigentlich Langeweile? Ja ja, ich weiß, eine empörende Frage, Sie haben eintausend wichtige Aufgaben fest im Fokus gleich einem überlasteten Fluglotsen mit persönlichem Kurs Burnout. An sich schade. Denn was spricht eigentlich dagegen, sich eine lange Weile zu gönnen, diese gar als Muße zu genießen? Denn Langeweile, unsere österreichischen Nachbarn bezeichnen sie gern wohlklingend als Fadesse, gilt in der Philosophie als Grundzustand der menschlichen Existenz! Langeweile jedoch scheint längst das letzte große gesellschaftliche Tabu, es misswandelte sich in unserer modernen Welt zur Brandmarkung des nicht gebraucht werden, nicht nützlich zu sein, keine wertschöpfenden Anforderungen zu erfüllen. Dabei bezeichnet die Muße, vom althochdeutschen „muoze“ abgeleitet, etymologisch sowohl Gelegenheit als auch Möglichkeit. Nur zu was? Albert Schweitzer erkannte einst „Der moderne Mensch wird in einem Tätigkeitstaumel gehalten, damit er nicht zum Nachdenken über den Sinn seines Lebens und der Welt kommt.“. Diese Form des Taumels behindert, verhindert womöglich das so wichtige ergebnisoffene Nachdenken. Denken um des Denkens willen, ohne Anspruch auf Ertrag! Verwegene Vorstellung, ich weiß. Unsere Welt verfemt den Müßiggang (vgl. nichts tun, träge sein) gar als sinnlos, obgleich es durchaus einem höheren Sinne zu dienen vermag.

Bereits am arg frühen Morgen fordert es in einer Werbeanzeige kreischend zwangsmotivierend von mir: „Raus aus der Komfortzone!“. Doch wozu? Ich verließ doch kaum eine halbe Stunde zuvor das warme Plumeau, bewies ich damit nicht pure Aufbruch-Energie am Limit? Nicht einmal die Sonne hat ihre Komfortzone der von uns abgewandten Erdhälfte verlassen!

In der englischen Sprache hat Comfort die Wortbedeutung Behaglichkeit, weshalb sollte jemand aus ihr hinauswollen? Natürlich ist mir schon klar, was damit gemeint ist, Erkenntnis, Entwicklung und Erfolg gibt es nur gegen Anstrengung, Ehrgeiz und Mühsal. Im Kern ja gar nicht unrichtig. Doch wenn es nicht auch Phasen der Entspannung gibt, heute schmuck Work-Life-Balance benannt, überhitzt jeder Motor irgendwann. Jeder Rennwagen wird immer wieder in die Box gerufen, klugerweise noch bevor ein Verschleiss auftritt. Gilt Wartung und Pflege nur für Maschinen, für Menschen nicht mehr? Denn „…in der ersten Hälfte unseres Lebens opfern wir unsere Gesundheit, um Geld zu erlangen, in der zweiten opfern wir Geld, um unsere Gesundheit wieder zu erlangen. Während dieser Zeit gehen Gesundheit und Geld gleichsam von dannen.“, wußte Voltaire, welchem man in seinem Schaffen Faulheit wahrlich kaum vorwerfen kann.

Offen gestanden, seit ich mich vor Jahren entschloss, in erster Linie beruflich hauptsächlich nur noch das zu tun, was mir gut tut, gelange ich erst zunehmend in meine persönliche, innere Komfortzone. Arbeite ich deshalb weniger als früher? Gewiss nicht, wohl aber bewusster, bisweilen egoistischer (lat. Egoismus = Eigenliebe) und von absichtlichem Müßiggang durchsetzt wie ein reifer Schweizer Käse. Doch gefühlt seit den neunziger Jahren, als der Workoholic als vorbildhafter Phänotyp reüssierte (obgleich heute gewusst wird, dass Quantität und Qualität in der Arbeit nicht im mindesten gleichzusetzen sind) werden wir unablässig bombardiert mit Dingen, die wir angeblich tun, leisten, erleben, erfahren, durchkämpfen und vor allem erwerben müssen. Und dies gefälligst auch zu dokumentieren haben! Kein Tag, an dem auf Facebook nicht Dutzende Photos von jeweils zwei Füßen in offensichtlich eifrig genutzten Laufschuhen inmitten verwelkendem Laubes nebst einer Karte mit soeben in beeindruckender Zeit bewältigter Strecke stolz künden.

Stets, wenn mir im Wald jemand meiner Altersklasse (und ähnlich adipös wie ich) mit dunkelroten Wangen, stoßweisem Atem und verkniffenen Augen in alberner TCM-Funktionskleidung entgegen gehechelt kommt, zweifle ich etwas, ob das ersehnte Runner’s High wirklich die finale Erfüllung meiner Träume darstellt. Dann gebe ich mich manchesmal meinem wiederkehrenden Tagtraum hin, meine dick bestrumpften Füße auf dem Sofa für meine internetten Kontakte zu photographieren, auf meiner Leibesmitte ein veritabler Foliant platziert, dazu die blasierte Überschrift: „Fünfundachtzig Seiten dieses Buches habe ich heute in knapp unter vierzig Minuten gelesen, ein toller Sofa-Sprint!“. Doch auch das altbewährte Sofa bietet heute keinen Schutzraum mehr für Muße und Genügsamkeit. In einem proppevollen Palast für Trend-Möbel in einer erzbistümlichen Enklave meiner ostwestfälischen Wahlheimat werden „Eventwohnen“ und „Erlebnis-Sofas“ feilgeboten. Wie muss ich mir das technisch vorstellen, welcherart Erlebnis soll mir bitte durch Chaiselongue und Récamière offeriert werden, nach welchem Event verlangt das ehedem schlichte Wohnen? Irritierend. Wenn ich nach einem meiner überaus erlebnisreichen Tage des abends daheim anlange, genügt unsere alte Sitzlandschaft exakt jenen zwei Eigenschaften, welche ich ihr einzig abverlange: Stabilität der Konstruktion sowie Mittelwert an Sitzhärte, fertig. Bitte nicht noch ein weiteres Erlebnis zur Nachtstunde kredenzen, ein Event nicht zwingend vonnöten. Das Wohnen ist in erster Linie „Sein“, Existenz, an einem fokalen Ort kompakt untergebracht. Dazu braucht es doch nicht all zu viel. Doch dieses auf sich selbst reduzierte Sein, Heideggers „..gegen seinen Willen in die Welt geworfen…“ ist uns obsolet geworden. Dieses Geworfen sein nämlich genügt nicht mehr, geschenkte Zeit ohne ökonomische Verwertbarkeit ist zu einem Makel, einem Stigma verkommen, zu etwas geworden, das es zu bekämpfen gilt. „Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben! Sie zu halten, wäre das Problem. Denn, wen ängstigst nicht: wo ist ein Bleiben, wo ein endlich Sein in alledem?“, brachte Rainer Maria Rilke grübelnd zu Papier. Die Wartezeit an der Bushaltestelle oder in der Abflughalle, die aufgezwungene Zeit im Stau oder in der Schlange vor dem Postschalter, überall die gleichsam beobachtbare Konditionierung. Stoppt irgendwo das geschäftige Treiben, wird die niemals endende Jagd doch einmal jäh unterbrochen, werden sogleich die kleinen Teufel der Zeitbekämpfung aus der Hosen- oder Jackentasche gefingert. Auf Facebook verlangt ein Post nach Likung, auf WhatsApp blinken fünf unbeantwortete Nachrichten, auf Jodel soll ein frecher Spruch publiziert werden, auf Doodle zwei Termine bestätigt, Instagram meldet das Vermissen brandneuer Bilder, auf Tinder erbitten fremde Gesichter zwecks Matching weg- oder rangewischt zu werden. Dabei stecken noch zwei schallgebende Knöpfe in den Gehörgängen, welche akustisch komplett von der Außenwelt abschotten und jede Konversation bereits optisch ablehnen.

An fremden Orten wird es noch befremdlicher. Statt einfach einmal im flüchtigen, all zu vergänglichen Moment zu sein, ihn mit allen Sinnen in sich aufzunehmen, ins eigene Seelengewölbe zu gravieren, wird ohne Unterlass touristisch verwertet, gefilmt, photographiert, konserviert, dabei jener Augenblick fixiert, der aber in seinem Ursprung dadurch gar nicht wahrhaft erlebt wurde, um ihn später nachzuvollziehen, in dieser kostbaren Zeit mittels eines Gerätes alles auf seinen spektakulären, somit nachträglich verwertbaren Gehalt verengt. Das eigentliche Erlebnis jedoch könnte derweil sofort in seiner Entstehung genossen werden, statt die Reflexion zu verschieben, bis das eigentlich nicht Erlebte aus starrer Einfrierung aufgetaut, als Retorte reproduziert und den Rezipienten daheim dergestalt offeriert wird: Schaut mal, was ich um ein Haar hätte aufregendes erleben können vor Ort!

Neulich erhielt ich einen fast zornigen Vorwurf via Kurznachricht: „Warum meldest Du Dich nicht zurück!?“. Die erste Nachricht des Versenders, welche mein Melden hätte zeitnah evozieren sollen, war kaum eine Stunde alt. Das Nichtmelden innerhalb sechzig Minuten ist also zum Affront mutiert. Wäre ich hier mutiger und ehrlicher, meine zutreffende Antwort hätte gelautet: „Weil ich nicht wollte. Weil ich sogar jetzt nicht will. Weil ich selbst bestimme, wann ich will. Und weil ich gerade eine spannende Begegnung mit meinem Selbst und einen Moment des Luftholens durchlebe, gerade meine Nase in den Wind halte, all dies mir momentan erheblich wichtiger ist als relativ belanglose Zeilen zu tippen.“. Doch so rüde sind wir natürlich nicht, ergeben uns längst der allseits grenzenlos obwaltenden, nicht mehr zu hinterfragenden Erreichbarkeits- wie Reaktionspflicht. Um uns herum wuseln augenscheinlich nur Notärzte in Bereitschaft, Bergretter mit Helikopterschein oder Kuriere für Organspenden, jedes Fiepen des diabolischen Kastens mutiert uns zu seinen willfährigen Sklaven. Gehören die Mobiletten uns oder gehören wir längst ihnen? Dabei erledigt sich erfreulich auch so manches durch reifen lassen. Denn unsere rauschhaft pfeilschnelle Gesellschaft hat keine Zeit für Memorisierung oder Hinterfragungen, die Verweigerung von Reaktion und Handlung wird all zu rasch vergessen für Herden von weiteren künstlich aufgeblähten Schweinen, die durch die zumeist digitalen Dörfer getrieben werden. Auf Wiedervorlage legen wir nichts mehr. Jetzt oder nie, der Raum dazwischen ist eliminiert. „Dieses Angebot gilt nur noch siebzehn Minuten, bestellen Sie jetzt, Sie werden es sonst bereuen!“ Non, je ne regrette rien, mon ami. Sie kennen gewiss jenes Bonmot, wonach wir Dinge kaufen, die wir nicht brauchen, mit Geld, das wir nicht haben, um damit Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen. Es war selten zuvor wahrer. Der eigene Entzug dieses Karussells ist zum eigentlichen Luxus unserer Tage geadelt, der Verzicht zur neuen Dekadenz gedreht.

In dem spannenden Kriminalfilm „Ronin“ von 1998 fordert ein hektischer Sean Bean in einer für ihn enervierenden Situation vom sinnierenden Robert de Niro lautstark die Entscheidung: „Bist Du Teil der Lösung oder Teil des Problems!?“. Jener ältere Gentleman aber lehnt sich lässig zurück und erwidert erhaben lächelnd: „Ich bin einfach nur Teil der Landschaft“. Das ist es. Gelassenheit als Ausdruck von selbstsicherer Milde aus stabiler Souveränität geboren. Mal einen Kampf im und ums Dasein auslassen, spontan das flirrende Zirkuszelt verlassen und draußen eine dösende Katze beneiden, während drinnen die Akrobaten zur Fanfare Rad schlagen und Salti vollführen.

Heute, am Erscheinungstag dieses vierten Kopfsalates, ist Sonntag. Gönnen Sie sich doch frech eine schön lange Weile nach Herzenslust, erlauben Sie Ihrem Gemüt Muße, gestatten Sie Ihrem Leib reichlich Komfort, befreien Sie Ihren Geist von Zielen. Ohne schlechtes Gewissen, ohne Ergebnis, ohne Rechenschaft. Werfen Sie Ihre blinkende Funkfiepe und Ihre Körperwerte messende Armbanduhr für diesen einen Tag über die nächststehende Hecke und legen sich ausgestreckt ins Gras. Einfach so. Und machen Sie kein Selfie davon. Blicken Sie stumm in den Himmel und spüren Sie dem leichten Windhauch nach, der Ihre Stirnsträhne zum Wiegen bringt. Wann haben Sie das zuletzt getan? Entziehen Sie sich! Kühn und ohne weitere Überlegung. Die Welt kann auch mal auf Sie warten. Soll auch sie selbst indes Langweile wieder lernen. Davon geht sie nicht unter. Versprochen. Eine gute Begegnung mit sich selbst wünsche ich, bitte grüßen Sie sich von mir. Hat aber keine Eile.

 

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