Carpe Diem

Die Geschichte der Eintagsfliege Willi

aus dem Buch „Und ewig murmelt das Tier“

von Alexa Förster

„Auf die Plätze fertig los!“ Es ist Frühsommer, die Zeit der Wandlung hat begonnen. Das milchige Licht des Morgens wird von strahlend hellem Sonnenschein vertrieben. Neben mir herrscht reges Gedrängel. Ein Gewirr sich häutender Artgenossen lässt die Wasseroberfläche erzittern. Alle sind eiligst bemüht, sich von ihrer alten Haut zu befreien, um keine kostbare Sekunde des neuen Daseins zu verschwenden. Drei Jahre lang verbrachten wir nur unvollständig entwickelt im stehenden Gewässer und erwarteten diesen einmaligen Tag. Dahin dümpelnd sehnten wir uns diesem Augenblick entgegen – diesem wunderbaren, großen, einzigartigen Moment – unserer Häutung. Wochen vorher spürte ich einen deutlichen Impuls, dass es bald so weit sein und ich in Kürze meine enge Umhüllung verlassen dürfen würde. Fühlte, dass die Zeit gekommen ist, meiner Berufung und meiner Daseinsberechtigung nachzugehen, dass ich nun meinen endgültigen Platz im evolutionären Geschehen einnehmen werde. Ich fieberte dem Augenblick entgegen. Immer wieder strampelte ich heftig mit meinen Beinen, um zarte Risse in der Umhüllung zu provozieren, doch alles hat seine Zeit, folgt dem natürlichen Rhythmus. Jetzt – genau jetzt ist es soweit, die Blase platzt. Ich beginne mich zu befreien, sie zu durchbrechen, mich herauszuschälen – möchte gern mein neues Erscheinungsbild präsentieren. Ich strebe der Freiheit entgegen, werde neu geboren. JETZT, genau jetzt lasse ich das Alte hinter mir. „Hurra, ich bin frei!“, rufe ich laut aus. Vogelfrei – so frei, wie es einer Eintagsfliege eben möglich ist. „Puh, geschafft!“ Wenn es für mich die Möglichkeit gäbe, den Schweiß der Mühen abzustreifen, dann hätte ich alle Hände voll zu tun – doch diese Möglichkeit gibt es nicht – Eintagsfliegen können nun mal nicht schwitzen.

Nun, da bin ich – ich möchte mich kurz vorstellen: Mein Name ist Willi und ich bin eine ziemlich ungewöhnliche Eintagsfliege. Bereits als das erste Fünkchen Leben in mir keimte, bemerkte ich, dass ich mit Verstand und Willen ausgestattet bin. Doch trotz dieser Besonderheiten verändert sich meine Vorsehung nicht, denn mein Leben unterliegt einer unabänderlichen Begrenztheit, die mit diesem einen Tag endet. Dieser eine kostbare Tag ist mein Leben und ich habe durch die Fähigkeit der Entscheidung beschlossen, es zu gestalten. Ich werde diesen, meinen Tag – mein Leben –  in vollen Zügen genießen! Drei Jahre lang kreisten all meine Gedanken um die mir nun bevorstehende Zeit – nichts anders erfüllte mich. Ich hatte Vorstellungen, Erwartungen und machte Pläne, wie ich meinen Tag gestalten werde. Doch wie soll man seine Wünsche konkretisieren, wenn man nicht weiß, was die neue Welt im Gepäck hat. Nun, Sie müssen wissen, es ist nicht üblich, dass sich Eintagsfliegen Gedanken zur Lebensgestaltung machen, doch scheinbar durchbreche ich alle Regeln des Üblichen und so waberte ich gedankenschwanger durch meine feuchte Heimat. Als würde man über den Wolken schweben und auf die emsige Betriebsamkeit der Menschen hinunterschauen, verbrachte ich meine Zeit damit, dem bunten Treiben in dem beschränkten Gewässer zuzuschauen, in dem ich lebte. Wie aus der Perspektive einer fernen Welt sah ich in regungsloser Untätigkeit, dem Kommen und Gehen, Entwickeln und Vergehen der Tiere und Pflanzen zu. Fügte mich bedingungslos in den ewigen Kreislauf des Wachsens und Werdens und wusste zu jeder Zeit, dass auch ich ein Teil des Ganzen bin. Von der Wasseroberfläche sicher getragen, ließ ich gelegentlich ein wenig Plankton durch mein Inneres fluten und genoss die Leichtigkeit des Daseins, ohne ein konkretes Ziel zu verfolgen. Ich war einfach da und erfüllte allein dadurch meine Daseinsberechtigung.

Die letzten Reste der Larvenhaut von meinen Beinen abstreifend empfinde ich ein Gefühl von Befreiung, von Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit. Ein Zustand, der sich in meiner vorherigen Form völlig ausschloss. Ich stehe dem Leben offen entgegen. Neugier beflügelt mich – im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist das erste Mal, dass ich meine Flügel wahrnehme. Zaghaft versuche ich, sie aus der engen Umklammerung meines Körpers zu lösen. Recke und strecke sie, bis ich ihre wunderbar durchscheinende Transparenz in voller Pracht neben mir erblicken kann. Ich bin stolz, so wunderbare Werkzeuge an meinem Körper zu finden. Behutsam bewege ich sie auf und ab. Ein Lufthauch erschüttert mein gesamtes fragiles System, hätte mich beinahe mit fortgetragen. Doch noch möchte ich nicht in die Lüfte aufsteigen, sondern zunächst die Welt aus meiner neuen Perspektive betrachten. Ich bin nicht mehr die Larve, sondern die Fliege. Unzählige Male habe ich mir diesen Moment in allen Einzelheiten vorgestellt und mich immer wieder gefragt: Willi, was machst du nur, wenn der große Moment eingetreten ist und du dein Leben in die Hand nehmen musst? Wie wirst du deine Zeit nutzen – deinen Tag gestalten? Wirst du es machen wie die Enten, den Kopf unter die Oberfläche stecken, um das Geschehen auszublenden? Oder wie die Frösche unbewegt dasitzen und warten, bis sich etwas Interessantes in dein Blickfeld bewegt? Oder dich wie die Vögel vom Aufwind in große Höhen tragen lassen und auf das Treiben hinabschauen? Oder etwa so wie deine Artgenossen – die ihr Leben ausschließlich der Vermehrung und Arterhaltung widmen? Unzählige Fragen beschäftigen mich in meiner vom Wasser getragenen Hülle. Widme ich mein Leben der Suche nach der passenden Frau, begatte sie im Fluge, um neue Nahrung in den zirkulierenden Kreislauf der Evolution einzuspeisen oder genieße ich mein kurzes Dasein bewusst in vollen Zügen? Gedanken über Gedanken, denen sich Zweifel und Schuld, sich gegen die Evolution stellen zu wollen, anschließen. Darf ich mein Leben selbst gestalten? Ist es einer Eintagsfliege überhaupt erlaubt, ihren Zweck nicht zu erfüllen und eigene Wege zu gehen? Was werden die anderen denken, wenn ich aus der Art schlage? Werden sie meine kleine Revolution überhaupt wahrnehmen, während sie selbst mit der Erfüllung ihrer Dinge vollauf beschäftigt sind? Werden sie mich ablehnen, gar meiden – die Weibchen mir nicht ihr Geschlecht zur Zeugung entgegenrecken, sondern reißausnehmen sobald ich mich ihnen nähere? Werde ich gescholten und ausgegrenzt, wenn ich nach meinem Tod in das Lebensrad zurückkehre – wird mir womöglich keine neue Existenz gewährt? Fragen über Fragen – Tag und Nacht beschäftigten sie mich in meinem eintönigen Larvenstadium. Wäre ich doch nur nicht aus der Art geschlagen, dann würde mich die innere Verzagtheit nicht plagen! Ähnlich, wie meine alte Hülle versuche ich meine Gedanken abzustreifen und mich auf die Gegenwart einzulassen. Die Zeit der Untätigkeit ist vorbei, nun muss ich handeln – raus ins Leben. Wie ein Kitzeln in meinem Inneren werde ich von einer plötzlich einsetzenden Unruhe erfasst – ich darf nichts verpassen, meine Zeit ist begrenzt. Ich habe mich entschieden, genau in diesem Augenblick weiß ich, was das Richtige ist. Ich gehe meinen Weg, nutze meinen Tag. „Carpe diem!“, rufe ich aus und stürze mich mit kräftigen Flügelschlägen ins Leben.

Einzigartig ist das Gefühl des ersten Flügelschlages, das mich in die Höhe treibt. Voller ehrfürchtigem Erstaunen blicke ich hinab auf meine ehemalige Wasserwelt. Ein laues Lüftchen trägt mich hinauf – ziellos lasse ich mich durch die Luftmassen treiben. Unbeschwerte Leichtigkeit erfasst mich, als ich aus schwindelerregender Höhe hinabschaue auf die blau schimmernde Wasserwelt. „Frei –ich binnn freiiiii!“, verzerrend verklingt mein Ruf, während ich in rasantem Tempo dem Erdboden entgegen sause, einen Looping drehe, Achten fliege, auf- und niedersteige, bis meine ersten Kräfte schwinden und ich mich zu einer kleinen Pause auf einem Blatt niederlassen muss. Hoch oben von der Eiche, die ihr frisches Grün in den schönsten Schattierungen präsentiert habe ich ein Pausenplätzchen gefunden. Von hier habe ich einen traumhaften Ausblick. Staubkörnchen, die ich bei meinen turbulenten Flugübungen eingefangen habe, von meinen Beinchen putzend, schaue ich die Welt aus einer völlig neuen Perspektive an. Verzückt erblicke ich einen neuen Kosmos. Ein Schmetterling, der seine Farbenpracht auf einer der Sonne entgegengereckten Blüte präsentiert, zeugt von der Vielfältigkeit der Wandlung. Weit übertroffen von der ergreifenden Schönheit sind all meine Erwartungen. Versonnen schaue ich in die Runde, lasse meinen Blick an Neuem und Vertrauten haften. Völlig selbstvergessen komme ich nicht einmal meiner fest einprogrammierten Putztätigkeit nach. Vor mir tummeln sich allerlei Artverwandte, sie schwirren auf der Suche nach Nahrung eher ziel- und planlos umher. Ich bin dankbar, dass ich mich, ob meines kurzen Lebens nicht mit einer solch profanen Beschäftigung aufhalten muss. Glücklicherweise verfüge ich nicht einmal über ein Verdauungssystem, das mich zur Nutzung verpflichtet. „Essen wird doch völlig überbewertet“, denke ich, „Nahrungssuche würde mir den Sinn für den wahren Genuss des Augenblicks verstellen.“ In unmittelbarer Nähe fliegen zwei kopulierende Artgenossen vorbei. Das Los der Evolution erfüllend haben die beiden nichts anderes im Sinn. Ich wende mich ab, um kein unnötiges Interesse in mir aufkeimen zu lassen. In langen inneren Verhandlungen habe ich mich dagegen entschieden, mich von meinen Trieben steuern, sondern mich stattdessen durch mein Leben treiben zu lassen.

Eine in leuchtendes grün getauchte Wiese liegt unter mir, bunte Farbspritzer der zahllosen Blütenpacht komplettiert das malerische Bild. Ich hebe ab und erfreue mich am Blütenzauber. Mich in Sicherheit wiegend nehme ich zielstrebig Kurs auf eine kleine weiße Blüte und übersehe die Gefahr, die sich in rasender Geschwindigkeit von hinten nähert. Meinen schmackhaften Leib fest in Sicht, rast ein Spatz mit weit aufgerissenem Schnabel auf mich zu. „Neiiiinnn!“, schreie ich laut auf. „Ich bin noch nicht so weit!“ Fliegende Kapriolen schlagend, stürze ich mich zwischen die schützenden gräsernen Halme, verkrieche mich unter einem ausladenden Blatt eines Löwenzahns und luke ängstlich gen Himmel. Das fliegende Ungetüm hat beigedreht, mich aus den Augen verloren und seinen Fokus umgelenkt. „Willi, Willi, das war knapp!“, denke ich. „Beim nächsten Mal musst du aber achtsamer sein!“ Zitternd, die dünnen Beinchen putzend, erhole ich mich von dem Überfall und versuche, mich auf mein Vorhaben zu besinnen: Tag genießen, alles aufsaugen, Neues erkunden, Freude haben! „Was war als Letztes in meinem Sinn?“, frage ich mich. „Ach ja, die zauberhafte weiße Blume!“ Einen testenden Blick in die Höhe werfend, wittere ich keine weitere Gefahr. Bevor ich mich aufmache, um mich ins einladende Blumenmeer zu stürzen, betrachte ich das, was mich umgibt. Hier im schummrigen Grün der Pflanzenstängel ist es behaglich und unheimlich zugleich. Auch hier lässt sich ein geschäftiges Treiben beobachten. Geraschel und Getrappel, eine Schar von Lebewesen bevölkert den Erdboden. Ein Regenwurm späht neugierig aus dem Erdreich hervor. In Reih und Glied schleppen unzählige Ameisen schweres Gepäck. Unweit von mir bewegt sich hinter einem dicken Grashalm etwas Großes. Angst keimt in mir auf – wer weiß schon, welche Gefahr sich hinter dem grünen Vorhang verbirgt. Eilig beschließe ich das erdige Reich zu verlassen und steige flink in luftige Höhen auf. „Ah, wunderbar, die Welt gehört mir. Fliegen ist einmalig!“, denke ich. Ein paar gemütliche Runden drehend erblicke ich plötzlich einen Artgenossen. „Ist das nicht der Roland?“, frage ich mich. Nebeneinander dümpelnd verbrachten wir einige Zeit zusammen in der wässerigen Heimat. Ich erhöhe mein Tempo und schon fliegen wir gleichauf. „Hallo Roland“, begrüße ich freudig meinen alten Kumpanen, „bist du heute auch rausgekommen?“ Ein knappes, geschäftiges „Ja“ ist seine Antwort. „Schön dich zu sehen!“, versuche ich ein Gespräch in Gang zu bringen. „Heute ist mein Lieblingstag!“, flöte ich ihm mit Begeisterung entgegen. „Ach!“ Seine Antwort ernüchtert mich ein wenig. „Hast du Lust mit mir auf Entdeckungstour zu gehen oder eine Runde Fangen zu spielen?“, frage ich ihn ermunternd. Mit leicht verdrehten Augen blickt er genervt in meine Richtung und entgegnet schnippisch: „Nein, ich bin anderweitig beschäftigt, total ausgelastet – vielleicht ein anderes Mal!“ Die letzten Worte verlieren sich im Abdrehen. Mir bleibt nichts, als seiner wegdriftenden Rückansicht nachzuschauen. „Mmh“, denke ich etwas frustriert, „was meint er wohl mit einem anderen Mal?“ Kopfschüttelnd fokussiere ich die wunderbare Wiese unter mir. In Pflanzennähe drehe ich ein paar ausgleichende Kreise über der wohlduftenden Augenweide. Ein Wassertröpfchen, das sich im Schatten eines Blütenblattes versteckt, glitzert mich einladend an. Ohne die Blume in ihrem Frieden zu stören, nehme ich federleicht direkt neben dem Tropfen Platz. Ein wenig meine Beinchen benetzend labe ich mich an der vertrauten Kühle. Welch ein Wohlgefühl –herrlich erfrischend. Wie unter einem gelben Sonnenschirm verborgen, erscheint mir dieser Platz herausragend, um das bunte Treiben zu beobachten. „Ob ich mir einen Augenblick des Dösens gewähren kann an einem solch bedeutenden Tag?“, fragt es in mir. Nun, ich beschließe, dass es kaum eine bessere Beschäftigung gibt, das Dasein zu genießen. Von meinem sicheren Beobachtungsposten aus betrachte ich unbeteiligt das wirre Getümmel unzähliger    Fliegewesen. Alle scheinen zielstrebig einer imaginären Strömung zu folgen. Jeder scheint genau zu wissen, was der Grund seiner Existenz ist, welchen Sinn sein Dasein hat. Niemand hält inne, alle scheinen nahezu ferngesteuert und einem inneren Drang zu folgen. Nicht achtend dessen, was sie umgibt, schwirren sie geschäftig umher. Halb wach, halb schlafend werde ich von einem Augenblick zum anderen aus meinen Tagträumen herausgerissen. Ein wunderbares Weibchen schwebt in unmittelbarer Nähe an mir vorüber und weckt in Sekundenschnelle uralte Triebe. „Ist das nicht die Barbe?“ Ich erinnere mich, dass sie selbst – noch von der Larvenhülle – umgeben schon erste Gelüste in mir geschürt hatte. Wie von Sinnen denke ich nur noch eins: Vermehrung! „Los, Willi, auf geht`s, die Gelegenheit ist günstig.“ Hin und her gerissen, ob meines eigentlichen Vorhabens, den evolutionären Trieben nicht zu erliegen, scheint mein Körper ein anderes Programm abzurufen. Doch mein zögerliches Verhalten hat die Gute bereits in unerreichbare Ferne katapultiert. Als ich zum Start bereit bin, ist sie längst aus meinem Sichtfeld entschwunden. „Wer zu lange wartet, hat verloren – handeln nicht warten ist die Devise. Wer etwas erreichen möchte, muss sich auch bewegen!“, ist meine ernüchternde Erkenntnis. „Barbe“, denke ich wehmütig, „wer weiß, ob sich unsere Wege noch einmal kreuzen?“ Dasitzend verrinnt die kostbare Zeit, doch ich spüre noch kein Verlangen meinen Flug wiederaufzunehmen. Zu wohl fühle ich mich unter meinem gelben Blütensonnenschirm und entbehre nichts. „Gibt es denn mehr als den Augenblick des Glücks, in dem alles vorhanden ist. Wozu sollte ich 80 Jahre oder mehr leben, wenn das Leben doch eine Momentaufnahme ist. Gibt es denn ein höheres Ziel als glücklich zu sein und sei es doch nur für einen Augenblick? – Willi, Willi, du bist womöglich die einzige philosophierende Eintagsfliege“, denke ich schmunzelnd in mich hinein. „Oh“, wie weggeblasen sind plötzlich meine Gedanken, denn erneut zieht mich ein betörendes Schwirren an. In einem neuen Annäherungsversuch umkreist mich die Barbe herausfordernd. Dieses Mal lasse ich mir ihr Angebot nicht entgehen. Wie im Turbogang rase ich hinter dem entzückenden Weibchen her. Mit kraftvollen Schlägen erreiche ich ihren anziehenden Körper –einen Augenblick lang fliegen wir nebeneinander. Der einladende Blick ihrer offenen Augen erlauben mir zur Tat zur schreiten. Federleicht nehme ich auf ihrem Rücken Platz. „Barbe!“ – „Willi!“ Entzücken begleitet unsere Zusammenkunft. Wie auf ihrem Rücken klebend drehen wir fest vereinigt einige Runden über der grünen Pracht. „Glückseligkeit hat viele Gesichter!“, denke ich. Doch alles Schöne endet jäh und so spüre ich deutlich dem Ende des Vergnügens entgegen. Wir trennen uns in Wohlgefallen. Zielsicher strömt meine Kurzzeitgefährtin in eiligem Tempo ihrer Berufung entgegen. Zahllose Eier mit meinen Informationen befüllt wird sie nun dem natürlichen Kreislauf zuführen. Zufrieden, mich doch nicht konsequent gegen den Sinn meines Daseins gestellt zu haben, spüre ich, dass meine Kräfte langsam schwinden. Wie von Zauberhand gelenkt senkt sich die Dämmerung über das Land und taucht meinen Ursprungsort in ein behagliches Licht. „Heute ist mein Lieblingstag – der beste Tag, um zu leben und zu sterben!“, denke ich. Um den letzten Akt meines Lebens zu begehen, zieht es mich zum Erdboden zurück. Welchen besseren Platz könnte es geben, um sich dem ewigen Kreislauf zuzuführen? Ein letztes Mal durchdringe ich das grüne Dickicht aus Halmen. Beruhigend umgibt mich die Kühle des Erdbodens. Jegliche Angst vor Gefahren, die sich hier im moderigen Reich verbergen ist geschwunden, denn deutlich ist mir mein nahendes Ende präsent. Ich schaue mich um und entdecke einen braunen Blattrest, der in seinem getrockneten Zustand eine kleine Höhle bildet. „Der ideale Ort zu sterben“, denke ich. Meinen Blick ein letztes Mal Richtung Himmel reckend erkenne ich, dass die leuchtenden Farben durch ein beruhigendes Schwarz ersetzt wurden. Langsam krabbele ich in meine Höhle. Erfüllt von tiefem Frieden resümiere ich meinen Tag. „Es war der schönste Tag in meinem Leben. Ich habe ihn in vollen Zügen genossen – nie könnte es einen besseren geben.“ Die letzten Gedanken verklingen in meinem Kopf, als auch ich von der Dunkelheit ergriffen werde. Ewige Ruhe schließt mich ein.

Als das erste milchweiße Licht des Tages mich mit seiner zarten Helligkeit weckt, weiß ich, dass ein neuer Zyklus begonnen hat.

.

.

.

11 weitere „Geschichten, die das Leben schreibt“ sind in Alexa Försters Buch „Und ewig murmelt das Tier“ verewigt.  Verspielt, frech, tiefsinnig – LESENSWERT. Erhältlich im Buchhandel und bei amazon.

 

Blog per E-Mail folgen

Gib deine E-Mail-Adresse ein, um diesem Blog zu folgen und per E-Mail Benachrichtigungen über neue Beiträge zu erhalten. Es gelten die Datenschutzbestimmungen.
Loading

Aktuelle Artikel