Das bedingungslose Grundeinkommen – Utopie, Vision oder Schnapsidee?
In dieser mehrteiligen Reihe berichtet Michael Krakow in livinginowl vom Zustand unserer heutigen Gesellschaft und über Ressourcenverteilung in Deutschland. Er analysiert, wie zukunftsfest unser Land tatsächlich aufgestellt ist und erläutert die Möglichkeiten einer stabilen Existenzgrundlage für alle BürgerInnen.
Folge 1
Uns geht es doch gut!
„Den Menschen in Deutschland ging es noch nie so gut.“ Unter großem Beifall vieler Parlamentarier im hohen Haus postulierte im November des vergangenen Jahres Angela Merkel erkennbar selbstzufrieden die Lage der Nation ins Pultmikro. Mir drängte sich sogleich die Frage auf, wer eigentlich diese Menschen sind, die unsere Bundeskanzlerin da so generalisiert euphorisch bewertet. Entspringt ihre Euphorie womöglich Euphemismus? Denn dass unsere Nation heute global wie ein massiver Solitär für Erfolg, Stabilität und Reichtum wirkt, ist unbestritten. Doch wie sieht es im Innern aus? Zieht man den schwarz-rot-golden glitzernden Vorhang beiseite, schaut sich sämtliche Akteure aufmerksam an, die sich dahinter tummeln, erkennt man wie der kundige TÜV-Prüfer flott den Rost unterm Lack. Geht es allen Bewohnern wirklich so gut, wie es international und merkelisiert betrachtet den Anschein hat? Begleiten Sie mich auf einen kleinen gedanklichen Rundgang, besuchen wir die Bürgerinnen und Bürger dieses glücklichen Landes.
Beginnen wir im Keller, um im Bild zu verbleiben. Dort im Dämmerlicht erblicken wir weit über eine halbe Million Obdachlose. Zögen wir sie in einer Region zusammen, so bevölkerte diese Gruppe die Städte Bielefeld, Gütersloh und Paderborn allein ausfüllend. Schon diese Vorstellung ist auf ungute Weise beeindruckend. Zwei weitere Zahlen jedoch machen diesen Umstand gruselig. Allein in den letzten sieben Jahren ist die Zahl der Wohnungslosen um ein Drittel gestiegen, 34% Neuobdachlose seit 2010! Etwa 30.000 von ihnen sind Straßenkinder. Da stellt sich sogleich die Frage, was diesen sprunghaften Anstieg auslöste und was der Staat dagegen zu tun gedenkt. Das Abgleiten in ein Leben ohne Dach über dem Kopf aus einer bürgerlichen Existenz heraus ist heute so zügig, überraschend und ungebremst möglich wie nie zuvor. Die Tatsache, dass es so viele Kinder ohne Kinderzimmer gibt, ist schlicht beschämend für ein Land wie das unsrige, daran lässt sich nun gar nichts beschönigen. Doch tut dies ja auch niemand, es ist schlicht überhaupt kein Thema medialen Interesses.
Betrachten wir nun jene, die zwar über eine Wohnung verfügen, jedoch nicht über bezahlte Arbeit. Gute 800.000 Menschen hierzulande beziehen ALGI, das klassische Arbeitslosengeld. Viereinhalb Millionen weitere erhalten ALGII, das sogenannte HartzIV,
Dieses wird in des Volkes Ansicht fälschlicherweise automatisch mit Arbeitslosigkeit gleichgesetzt. Dies aber ist unzutreffend, denn fast ein Drittel der „Hartzer“ (auf die Verrohung von Sprache und deren Folgen komme ich in einer eigenen Folge zurück) sind Aufstocker, die zwar zumeist Vollzeit arbeiten, jedoch dafür so wenig Lohn erhalten, dass es zum Leben nicht reicht. Volle Leistung, aber nicht volles Geld. So springt der Staat ein und gleicht geschmeidig aus Steuermitteln aus, was Arbeitgeber einsparen. Insgesamt liegen die prekär Beschäftigten und Leiharbeiter gemeinsam bei inzwischen bei 2,6 Millionen Arbeitenden. Zwei Millionen Kinder unter 18 Jahren sind ebenfalls auf HartzIV angewiesen. Da in kaum einem anderen Land der OECD der Bildungsgrad von Kindern derart vom Vermögensstand der Eltern abhängt, können wir uns ohne viel Phantasie vorstellen, wie deren nahe Zukunft sich wohl ausgestaltet. Die Schicht rekrutiert sich selbst. Das hat sie übrigens mit der sehr reichen Schicht gemeinsam, doch dies beleuchten wir nicht heute, dafür bald.
Die Bundesagentur für Arbeit bejubelt die Zahl der Erwerbslosen bei 2,489 Millionen (Stand Mai 2017) und klopft sich auf die Schulter. Wer über viel Zeit verfügt (welche ich mir dafür nahm) und zudem Lust auf das Kleingedruckte der Nahles’schen Bulletins (welche sich bei mir während des Lesens zunehmend entwickelte), stößt auf einige, nicht gerade kleine Gruppen, welche kurioserweise gar nicht mitgezählt werden, obgleich auch sie ohne Erwerbseinkommen sind: Erwerbslose über 58 Jahre Lebensalter, welche mit Partner über 1.300,— Einkommen, Qualifizierungsteilnehmer, Kurzzeiterkrankte, Langzeiterkrankte, 50-Plus-Teilnehmer, Kurzarbeiter, 1-Euro-Jobber und etliche andere. Sie alle bilden die „Stille Reserve“, was tatsächlich ihre amtliche Kastenbenennung ist. Schade, dass für diese Reserve (für was auch immer sie Reserve sein soll) die öffentliche Wahrnehmung auch sehr still ist. Rechnet man die Reservisten zur ministeriell schalmeiten Zahl hinzu, ergeben sich plötzlich real etwa 3,7 Millionen Erwerbslose! Für solcherart Frisierungen würde jeder Gebrauchtwagenhändler ertappt auf die metallene Marke eines Uniformierten starren. Zudem sind es zwei Schönheitsfehler, deren Aufdeckung aus der vermeintlichen Erfolgsgeschichte Agenda 2010 einen Kaiser ohne Kleider machen: Der Vergleich der Erwerbslosenzahlen heute mit dem Einführungjahr 2005 ist irregulär. Zum einen wird hier ein Rezessionsjahr mit einem Boomjahr verglichen, zum anderen sind gerade im Osten eine sehr hohe Zahl von Erwerbslosen in die Rente gegangen. Bezieht man diese beiden Umstände mit in die dann bereinigte Berechnung, wie es seriös wäre, ist der Erfolg der Agenda 2010 marginal.
Merken Sie etwas? Gruppe folgt hier auf Gruppe, Zahl folgt auf Zahl, doch noch immer keine Menschen in Sicht, denen es so gut erginge wie nie zuvor. Ich muss Sie enttäuschen, leider bleibt dies in der ersten Folge dieser Essay-Reihe auch so.
Schlendern wir also neugierig zur nächsten gesellschaftlichen Gruppe. Ein Großteil der 4,1 Millionen Solo-Selbstständigen schuldet den deutschen Krankenkassen mittlerweile den unglaublichen Betrag von 6,1 Mrd. Euro. Grund ist ihr durchschnittliches monatliches Einkommen von 789 Euro, wovon ihnen im Schnitt für die Absicherung ihrer Gesundheit 37% abgefordert wird, weil nicht ihr tatsächliches Einkommen eine Rolle spielt, sondern ein theoretisch angenommenes, stramm realitätsfernes. Diese Problematik ist der Politik auch hinreichend bekannt. Dass diese Gruppe parallel für ihr Alter finanziell vorsorgt, ist schwer vorstellbar, ihr winkt die Altersarmut, was uns gleich zur nächsten Gruppe führt. Jene nämlich, welche ihr Arbeitsleben aus Altersgründen abgeschlossen hat und dennoch unter der Grundsicherungsmarke von 824 Euro täglich ihren Kampf ums Leben ausficht. Hier haben wir Senioren, deren Anzahl seriös auf gut eine Million beziffert werden kann. Sie haben geleistet, was ihnen jedoch jetzt im Alter kein menschenwürdiges Dasein einbringt. Allein dieses Problem ist schon jetzt turmhoch, gleichwohl erst in seinen Kinderschuhen: 2036 wird Berechnungen zufolge jeder dritte Rentner in dieser Grundsicherung landen! In Österreich übrigens liegt die durchschnittliche Rentenzahlung bei über 2.000 Euro. Ich bin gespannt, wann unsere Volksvertreter sich für den ungeheuer frechen Trick unserer Alpen-Nachbarn interessieren, alle Erwerbsbezieher solidarisch einzahlen zu lassen.
Ziehen wir einen Saldo-Strich unter all diese und hier aus Raumgründen nicht erwähnten Zahlen, konstatieren wir im Jahre 2017 den unglaublichen Anteil von rund 16 Millionen Menschen in diesem Lande, welche am gesellschaftlichen Leben lediglich rudimentär teilnehmen und auch wenig Perspektive erkennen, dass sich an ihrer zementenen Schichtzugehörigkeit etwas ändert. Darunter sind über zwei Millionen Kinder, 345.000 von ihnen stehen tagtäglich an den Tafeln an, um Mahlzeiten zu ergattern, derer sie sonst kaum habhaft werden. Wem das im Lande der grenzenlosen Bankenrettung keine Schande ist, hat kein Herz. Allen Kindern in Deutschland eine warme, mittägliche Schulmahlzeit kostenfrei zu offerieren, würde unseren Staat circa 900 Millionen Euro im Jahr kosten. Für die Reduktion der Mehrwertsteuer für Hotels lassen wir seit 2010 jährlich 1,1 Mrd. Euro springen (einen augenzwinkernd Mövenpick’schen Gruß an die Liberalen). Das Buffet mit mehreren Sternen ist eben nicht nur vom Nährwert hochwertiger als die Kost für Kids, sondern auch in haushaltspolitischer Priorisierung.
Die Frage an Frau Merkel muss erlaubt sein, welche Menschen sie meinte, denen es doch so gut wie nie geht. Ein Fünftel unserer Gesellschaft dürfte sich wohl nicht angesprochen fühlen. Was deren röchelnde Kaufkraft für unseren Binnenmarkt bedeutet, überlasse ich an dieser Stelle des Lesers ökonomischem Sachverstand.
Weder unsere Regierungsparteien noch die Opposition scheinen sich ernsthaft mit diesen Menschen auseinanderzusetzen und ernten dafür lakonisch schulterzuckend sinkende Wahlbeteiligungen sowie eine zunehmende Radikalisierung. Eine eigentlich helle Bestürzung auslösen müssende Umfrage aus diesem Jahr ergab, dass hochgerechnet 71% der Bevölkerung das „Solidaritätsversprechen unseres Gesellschaftsvertrages als gebrochen ansieht“. Mit sinnentleerten Sprüchen auf aktuellen Wahlplakaten, welche selbst der „Bäcker Blume“ als Kalenderspruch zu schlicht wären (z.B. „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“), ist dieser wachsenden Gefahr für unsere Demokratie jedenfalls nicht zu begegnen. 16 Millionen Menschen leben eben nicht gut in diesem, unseren Lande. Große Probleme werden von der Menschheit nicht gelöst, sondern gelangweilt liegen gelassen, erkannte Kurt Tucholsky. Mal schauen, wie lang es uns noch gelingt zu ignorieren. Denn wir, verehrte LeserInnen, sind als Volk nicht besser als jene Vertreter, die wir wählten. Unser Credo: Läuft ja alles. Irgendwie…
Nächste Folge (2): Wer fleißig ist, bekommt auch was – Die Neidgesellschaft.
Wer Michael Krakow einmal live erleben möchte, dem sei sein Vortrag zu diesem Thema am 5. September 2017 in Detmold ans Herz gelegt.