Kontaktgrinsen gegen Brückenschmerzen

Der städtische Linienbus biegt um die Mittagszeit mit Schwung in die Haltebucht, öffnet seine Türen und lässt eine Mutter mit einem Grundschulkind an ihrer Hand die wenigen Stufen ins Innere erklimmen. Die beiden setzen sich in die Reihe vor mich. Der kleine Junge plappert mit rosigen Wangen aufgeregt von seinem soeben absolvierten Schultag. So vieles scheint er neu erfahren zu haben, so vieles gelernt, so viele Abenteuer in den Pausen mit anderen erlebt. Alles sprudelt heraus aus ihm, muss unbedingt sogleich mitgeteilt werden. Unterbrochen wird sein atemloser Bericht vom Tage nur von interessanten Dingen, die er akut erblickt in jener bunten Welt, welche gerade draußen vor unseren Busfenstern in Schlaglichtern vorüberzieht und auf die er seine Mutter fasziniert hinweist. Ich lausche ihm gern, hege ein großes Faible für aufgeregte Erzählungen voller Begeisterung, ob von großen oder kleinen Leuten. Irgendwann verstummt das Kind, der Strom seiner Erzählungen versiegt. Doch gleichwohl nicht, weil ihm nichts mehr ein- und auffiele. Seit beide Platz nahmen, ist der mütterliche Kopf, welcher seine Geschichten zugeeignet sind, gesenkt, ihr Fokus ohne Unterlass auf das Smartphone in ihrer Hand gerichtet. Etliche Stationen haben wir indes passiert, Menschen stiegen zu und wieder aus. Der Mutter Blick ging nicht ein einziges Mal hoch oder gar zu ihrem Sohn. Ich kann sehen, dass auf ihrem kleinen Display bunte Objekte von emsigen Daumen hin und her geschoben werden, einige davon verschwinden ab und zu mit buntem Effekt. Die kindlichen Episoden, die ihre Ohren anlanden wie kleine Wellen den Strand, verschwinden auch, aber ohne Effekt.

In der kleinen Schlange in meiner Stammbäckerei ist noch ein Kunde vor mir dran. Die junge Verkäuferin scheint neu hinter dieser Theke. Ihre Haltung ist durchgedrückt, ihre Schürze makellos gestärkt, ihre Armhaltung und Augen sind weit geöffnet. Ihren Mund zieht ein einnehmendes Lachen auseinander, das weiße Zahnreihen offenlegt. Ein wärmendes Strahlen blinkt aus ihrem Gesicht. Hier steht jemand hinter angeleuchteten Teigwaren, der offenkundig gern dort ist, wo er gerade ist und alles an ihr scheint bereit, die Kundenwünsche mit höchstem Engagement zu erfüllen. Ihre Kehle verlässt nun klar und deutlich ein bestens gelauntes „Guten Tag, herzlich willkommen! Was kann ich für Sie tun?“ Nichts an ihr erscheint gekünstelt, nichts antrainiert, nichts stereotyp oder intentionsleer phrasiert. Sie meint, was sie sagt, denn ihr gesamter Habitus drückt stimmig dasselbe aus. Der Kunde neben mir, dem diese reichhaltige Kaskade der Herzlichkeit gilt, schaut an ihr vorbei in die Regale und erwidert betonungslos: „Roggenbrot“. Es bleibt das einzige Wort, welches er hier zu abzusondern bereit sein wird. Er wirft einen zerknitterten Schein auf die Schale, während die Fachverkäuferin, noch immer strahlend, das Gewünschte derart sorgsam in eine Papiertüte eindreht, als handele es sich um ein persönliches Weihnachtsgeschenk. Der Kunde nimmt Brot und Wechselgeld an sich und wendet sich ab. Ob er ihr schalmeites „Ein schönes Wochenende!“ noch vernimmt, vermag ich nicht verlässlich einzuschätzen, jedenfalls reagiert er darauf nicht. Die Güte seines Wochenendes scheint sie nichts anzugehen, ebensowenig wie ihn die ihre.

Ein Autofahrer nähert sich der Kreuzung. Sein nervöser, deutlich gehetzter Blick schweift umher, ohne dass er an etwas Hilfreichem hängenbliebe, das seine Unsicherheit abzumildern in der Lage wäre. Dieses Gebahren und die eher niedrige Fahrgeschwindigkeit sowie sein Kennzeichen, welches nicht nur auswärtig, sondern aus deutlicher Ferne stammt, lassen mich annehmen, dass er auf einer Suche in der für ihn noch fremden Stadt ist. Sein veteraniger Kleinwagen ist technisch eher ungenügend ausgerüstet, seine Augen sind derzeit sein einziges Navigationsgerät. Das Fahrzeug hinter ihm hingegen besitzt ein Kennzeichen, welches direkt hier vor Ort angemeldet wurde. Diesen schiffsartig schweren Wagen zu übersehen, ist kaum möglich, denn der Fahrer hupt wie entfesselt, wobei der Einsatz seiner Lichthupe eine Art Wechselrhythmus eingeht mit dem Schlagen seiner Hand auf das Lenkrad. Seinen Mund verlassen wilde Flüche, sein Gesicht ist beinahe so hassverzerrt, als hätte der Fahrer vor ihm seiner Familie Unverzeihliches angetan. Schließlich heult der großvolumige Motor auf und peitscht die quietschenden Reifen halsbrecherisch knapp am Heck des touristischen Gastes vorbei, quer über die schraffierte Fläche, welche zwei Fahrbahnen voneinander trennt. Bei diesem Manöver schafft der Ortskundige es noch, auf Höhe des überforderten Suchers angekommen, seinen ganzen Grimm tonlos durch ihrer beider Scheiben mit zusammengekniffenen Augen und bedrohlich gestikulierend über den Bremsenden auszugießen.

Drei kleine Erlebnisse an diesem Tag. Sie bringen mich zum Sinnieren, werfen Fragen in mir auf.

Wie häufig wird jener kleine Junge noch ignoriert werden müssen, bis er lernt, dass seine Erlebnisse und die Empfindungen, welche sie in ihm auslösen, in ihrem Faszinationsgrad nicht gegen technische Ablenkungen bestehen. Wie lange wird es dauern, bis er das Mitteilen (leitet sich vom Teilen ab) resigniert einstellen wird, seine Geschichten in sich verdorrend bewahren wird? Wie häufig noch wird die junge Verkäuferin ihren juvenilen Charme chancenlos gegen Ignoranzen ansprühen, bis sie und er allmählich abstumpfen und sie ihre Arbeit nur noch als Job mit Minimaleinsatz abwickelt? Welches Bild nimmt der Reisende mit von unserer Stadt, nach seinem ersten Kontakt mit einem Einheimischen? Und wie sicher wird seine Fahrweise nach diesem Intermezzo sich wohl verstärken?

Eine der Urtriebe des Menschen ist seine soziale Bindungsfähigkeit, jeder von uns braucht ergiebige Interaktion dringend für sein Gemüt. Der positive Austausch mit anderen ist unverzichtbare Nahrung für unsere Innenwelt. Und all dies findet über Kommunikation statt, verbal und nonverbal, sie ist unser unverzichtbares Werkzeug. Wir bestimmen zu jedem Augenblick, was und wie wir es übermitteln und welche Reaktion wir ernten. Könnte die Mutter auf den Bonuslevel ihres elektronischen Spiels verzichten, sie würde Spannendes aus der Lebenswelt ihres Sprösslings erfahren. Würde der Kunde die Freundlichkeit des Personals spiegeln, er nähme neben dem Brot auch die Herzlichkeit mit zu seinen weiteren Aufgaben. Hätte der ungeduldige Fahrer dem Verkehrsteilnehmer Hilfe bei seiner Suche angeboten, beide setzten entspannt ihren jeweiligen Weg fort.

Doch ist es leicht und billig, Menschen in und anhand eines kurzen Ausschnittes ihres Daseins zu bewerten, abzuwerten, gar zu verurteilen. Vielleicht besinnen wir uns stattdessen auf uns selbst. Ein jeder für sich. Sprechen Sie viel mehr mit jenen, welchen ihnen situativ direkt vor Ihr Gesicht geweht werden, schenken Sie Fremden ein Lächeln. Einfach so. Es kostet nichts und benötigt keinen Grund. Sie können der unbekannten Toilettenfrau fröhlich einen schönen Abend wünschen, der medizinischen Angestellten am Praxistresen lächelnd danken für ihre Arbeit, dem unaufmerksamen Verkehrsteilnehmer freundlich die Vorfahrt überlassen, welche von Rechts wegen ihnen gebührt. Und wenn Sie es nicht für andere tun, so doch wesentlich für sich selbst. Denn die anderen entschwinden rasch aus Ihrem Blickfeld. Mit sich selbst aber sind Sie unausweichlich rund um die Uhr zusammen. Wäre es da nicht wohltuender, mit jemandem den hektischen Alltag zu verbringen, der dem zum Trotze milde gestimmt und guter Dinge ist? Kommunikation lebt von ihrem Gebrauch und ihrer Intention. Und Sie von ihr. Bauen Sie deshalb Brücken, überall. Lächeln Sie grundlos, gerade dann, wenn es Grund zum Ärgern gibt. Denn reich wird man durchs Schenken.

Michael Krakow – Seminare / Vorträge / Coaching: www.mikrakom.de

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