Altweibersommer in Bielefeld

Altweibersommer in Bielefeld – Remise am Möbel-Bahnhof, umgeben von Grün und altem Backstein
Altweibersommer in Bielefeld: Die alte Remise am Möbel-Bahnhof zeigt, wie Natur und Geschichte in stillem Einklang ruhen.

Es gibt Texte, die jedes Jahr aufs Neue berühren. Einer davon ist Kurt Tucholskys Prosaminiatur „Altweibersommer“, geschrieben vor fast hundert Jahren, und doch überhaupt nicht alt. Diese kurze Zeitspanne zwischen Sommer und Herbst hat er eingefangen wie kaum ein anderer: still, klar, melancholisch und zugleich voller Wärme.

Die Fotos von Irene von Uslar, aufgenommen am Möbel-Bahnhof in Bielefeld, spiegeln diese Stimmung auf ihre eigene Weise. Zwischen Backstein, altem Holz, einem verwitterten LKW und stillen Gartenszenen wird der Altweibersommer sichtbar.

Wenn der Sommer innehält

Wenn der Sommer vorbei ist und die Ernte in die Scheuern gebracht ist, wenn sich die Natur niederlegt, wie ein ganz altes Pferd, das sich im Stall hinlegt, so müde ist es – wenn der späte Nachsommer im Verklingen ist und der frühe Herbst noch nicht angefangen hat – dann ist die fünfte Jahreszeit.

Altweibersommer in Bielefeld – verwitterte Holzbänke und ein alter Tisch im Garten des Möbel-Bahnhofs
Altweibersommer in Bielefeld: Ein Tisch mit verwitterten Bänken im Möbel-Bahnhof. Stiller Treffpunkt zwischen Sommerlicht und Herbstschatten

Genau dieses Kippen zwischen zwei Jahreszeiten spürt man auch am Möbel-Bahnhof: Nichts drängt, nichts eilt. Alte Möbelstücke lehnen an den Wänden, der Garten hält still, die Luft riecht nach Vergänglichkeit und Neubeginn zugleich.

Nun ruht es

Nun ruht es. Die Natur hält den Atem an; an andern Tagen atmet sie unmerklich aus leise wogender Brust. Nun ist alles vorüber: geboren ist, gereift ist, gewachsen ist, gelaicht ist, geerntet ist – nun ist es vorüber. Nun sind da noch die Blätter und die Gräser und die Sträucher, aber im Augenblick dient das zu gar nichts; wenn überhaupt in der Natur ein Zweck verborgen ist: im Augenblick steht das Räderwerk still. Es ruht.

Im Hof des Möbel-Bahnhofs scheint manchmal dieselbe Ruhe zu herrschen. Ein Spiegel im Garten, verlassene Stühle, ein Tisch, der wie ein Wächter der Zeit wirkt. Alles hält inne, bis wieder Bewegung kommt.

Schwarz-goldenes Licht

Mücken spielen im schwarz-goldenen Licht, im Licht sind wirklich schwarze Töne, tiefes Altgold liegt unter den Buchen, Pflaumenblau auf den Höhen … kein Blatt bewegt sich, es ist ganz still. Blank sind die Farben, der See liegt wie gemalt, es ist ganz still. Boot, das flußab gleitet, Aufgespartes wird dahingegeben – es ruht.

Altweibersommer in Bielefeld – Blick aus der Werkstatt des Möbel-Bahnhofs durch Spinnweben ins herbstliche Grün
Altweibersommer in Bielefeld: Spinnweben im Werkstattfenster des Möbel-Bahnhofs, ein leiser Übergang.

Durch die Fenster der alten Bahnhofshalle fällt dieses schwarz-goldene Licht ebenso. Es legt sich auf Eisen, Backstein und Holz. Ein Moment, der wirkt wie gemalt – so klar, dass man ihn fast festhalten möchte.

Vier, acht Tage

So vier, so acht Tage – Und dann geht etwas vor.

Auch hier gilt: Die Zeit steht nur kurz still. Dann verändert sich die Stimmung, eine neue Idee entsteht, und plötzlich geht alles weiter.

Der Knack in der Luft

Eines Morgens riechst du den Herbst. Es ist noch nicht kalt; es ist nicht windig; es hat sich eigentlich gar nichts geändert – und doch alles. Es geht wie ein Knack durch die Luft – es ist etwas geschehen; so lange hat sich der Kubus noch gehalten, er hat geschwankt … , na … na … , und nun ist er auf die andere Seite gefallen. Noch ist alles wie gestern: die Blätter, die Bäume, die Sträucher … aber nun ist alles anders. Das Licht ist hell, Spinnenfäden schwimmen durch die Luft, alles hat sich einen Ruck gegeben, dahin der Zauber, der Bann ist gebrochen – nun geht es in einen klaren Herbst.

Wer einmal an einem frühen Herbstmorgen durch Bielefeld geht, spürt genau das: ein unsichtbarer Ruck in der Luft. Und am Möbel-Bahnhof ist es, als ob das Gebäude selbst mitschwingt – als ob die Mauern den Atem kurz anhalten und dann in den Herbst entlassen.

Das Wunder

Wie viele hast du? Dies ist einer davon. Das Wunder hat vielleicht vier Tage gedauert oder fünf, und du hast gewünscht, es solle nie, nie aufhören. Es ist die Zeit, in der ältere Herren sehr sentimental werden – es ist nicht der Johannistrieb, es ist etwas andres. Es ist: optimistische Todesahnung, eine fröhliche Erkenntnis des Endes. Spätsommer, Frühherbst und das, was zwischen ihnen beiden liegt. Eine ganz kurze Spanne Zeit im Jahre.

Vielleicht sind es auch die Möbel, die solche Wunder tragen: Bretter, die Jahrzehnte alt sind, bekommen im Möbel-Bahnhof ein neues Leben. Und so wie der Altweibersommer nur für wenige Tage bleibt, entsteht hier etwas, das Generationen überdauert.

Die fünfte Jahreszeit

Es ist die fünfte und schönste Jahreszeit.

So endet Tucholskys Text und man wünscht sich, er möge nie aufhören.
In Bielefeld, am Möbel-Bahnhof, kann man diesen Atemzug zwischen den Zeiten sehen, fühlen und erleben. Vielleicht nicht jeden Tag, aber an genau den richtigen.

Fotos: Von Uslar Fotogalerie, Bielefeld

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