Ja, das ist der berühmte Rilke-Turm auf Gut Böckel bei Rödinghausen. Bevor wir ihn und die Geschichte mit Hertha Koenig und Rainer Maria R. aber virtuell erklimmen, tauchen wir in die Historie des einsam gelegenen Gutes und die des russischen „Sacharni Korol“ – Zuckerkönig – Leopold Koenig ein. Wir werden auch sehen, welch tiefe Querverbindungen das Gut im Wiehengebirge zur Region und insbesondere der Obermetropole Bielefeld hat.
Zunächst also der Name „Böckel“. Er kommt wohl, wie es einmal ein mit der Gegend und dem „westphälischen Gutshof“ uneiniger Dichter Rilke in einem Brief 1917 an Marie von Thurn und Taxis schrieb, von „zum Böckel“.
Die Geschichte der Wasserburg „Böckel“ ist wechselhaft, geprägt von vielen Besitzern und geht bis auf das Jahr 1350 zurück. Damals gehörte sie einem Ritter Rape von dem Bussche, dem im 15. Jahrhundert die Familie von Hake, Burgbesitzer nahe Bad Iburg, folgte. Das Rittergut war aber damals geteilt. Von Hakes hatten das heute spurlos verschwundene Teil, welches mit der Bauernschaft Bieren nach Rödinghausen eingepfarrt wurde. Den anderen Teil besaßen die von Quernheims. Er gehörte zum Kirchspiel Bünde. Jetzt kommt eine Erbfolge ins Spiel, die auf Gut Böckel eine Besonderheit ist: Es gab immer nur weibliche Erben. Der ist es zu schulden, daß Böckel 1540 in den Besitz einer Familie Voss überging, die es rund 200 Jahre lang „Vossböckel“ nannte. 1689 erwarben die Vossens Hakenbökel und fügten es mit Vossböckel zu neuer Größe zusammen.
1763 kam das Gut durch Heirat der erbenden Voss-Tochter an Wilhelm-Rudolf von Buttlar, der es bereits 1771 an Jobst Freiherr von Vincke verkaufte, der 1813 starb. Der Gutsverwalter Friedrich Gottlieb Köhne kaufte das Gut und verkaufte es um 1841 an Kommerzienrat Gustav Delius in Bielefeld, jenem damals ebenso wohlhabenden wie einflussreichen Textilkaufmann Delius, der 1855 die Gründung der Ravensberger Spinnerei unterstützte, nachdem er lange gegen die mechanische Verspinnung des hiesigen Leinens war.
Nun kommt unser russischer Zuckerkönig ins Spiel, der 1874 Gut Böckel für seinen Sohn Carl Koenig kaufte. Leopold, Sohn eines nach Rußland ausgewanderten thüringischen Bäckergesellen, war im Reich des Zaren mit Anbau, Verarbeitung und klugem „Marketing“ von Zuckerrüben zu beträchtlichem Reichtum gekommen. Leopold war zwar ein Patriarch alter Schule, aber für russische Verhältnisse von außerordentlich sozialem Verantwortungsbewußtsein seinen Arbeitern gegenüber. Was wiederum die 1884 auf Gut Böckel geborene Enkelin Hertha offensichtlich geerbt hatte.
Wie die Fäden sich nicht nur in Ostwestfalen-Lippe verknüpfen, zeigt eine Anekdote aus Bonn. Leopolds Frau Caroline vertrug das Klima in St. Petersburg nicht. Februar 1868 kaufte Leopold eine prächtige Villa am Rhein, die 1899 von einer Familie Hammerschmidt gekauft wurde und später der Amtssitz des Bundespräsidenten werden sollte: Villa Hammerschmidt.
Zuckerkönig-Enkelin Hertha verbrachte 14 Jugendjahre auf Gut Böckel und wurde dann auf eine „Höhere Töchterschule“ in Bonn geschickt. In den Annalen liest man, daß die bemerkenswerte Frau häufig in München war und sich dort in literarisch-intellektuellen Salons bewegte und auch selbst einen gründete. Bekannte Dichter, Literaten und Maler ihrer Zeit gehörten zu ihrem Freundeskreis. Trotz aller großstädtischen „Freuden“ zog es die Ostwestfälin immer wieder auf das Gut zurück, bis sie nach dem Tode ihres Vaters Carl zunächst die Verwaltung übernahm und ab 1930 ständig da lebte. Hier im ruhigen Winkel Ostwestfalens führte sie aber ihren Salon fort. Hauskonzerte, Besuche bekannter Literaten, Philosophen, Denker und Dichter wechselten sich ab. Sogar der damalige Bundespräsident Theodor Heuss machte sich von seinem Amtssitz Villa Hammerschmitt auf den Weg in die „westfälische Provinz“. Ob es der literarische Ruhm der Gutsherrin, Kunstsammlerin (Picasso, Vogeler, Hodler, Klee, Nolde) und Helferin bei den Problemen der „kleinen Leute“ in der Gegend oder die Präsidialvorlage eines Ministerialdirigenten („Herr Bundespräsident, besuchen Sie mal die Enkelin des ehemaligen Villa-Hammerschmitt-Besitzers“) war, wissen wir nicht. Er kam jedenfalls „inkognito“ und die westfälisch-deftige Reichung der Speisen muß wohl Schmunzeln ausgelöst haben.
Hertha Koenigs Gedichte wurden im Insel Verlag, ihre Prosa bei S. Fischer verlegt. Viele Kunstgegenstände aus ihren großen Sammlungen, der großen Bibliothek und Plastiken verkaufte oder verschenkte sie zu Lebzeiten. Nach ihrem Tod 1976 gingen Exponate an die Kunsthalle Bielefeld, die Stiftung Huelsmann (Ravensberger Park, Bielefeld) und die Stadtbibliothek des Oberzentrums.
Der heutige Besitzer des Gutes, Dr. Ernst Leffers, stellte uns eine Zeitungsseite des Westfalen-Blattes vom 28. Juni 1977 zur Verfügung, in dem der Redakteur Johannes Lübeck über die große alte Dame von Gut Böckel, ihr langes, bewegtes Leben, die Sammlungen und den „Umgang der Stadt Bielefeld“ damit berichtet.
Er schließt mit den Worten: „Wenn Hertha Koenig ihrem Nachfolger auf Böckel ein Haus mit kahlen Wänden hinterlassen hat, so wohl nicht deshalb, weil die Bilder in ihrer Mehrzahl in Magazinen verschwinden sollten“.
Kein glückliches Händchen hatte Hertha Koenigs Großneffe und Nachfolger, der Norweger H.Jørgensen. Zwar hatte Hertha festgelegt, der Erbe müsse „den Hof 15 Jahre bewirtschaften, bevor er ihn verkaufen darf“. Aber die Frist verstrich. Das Gut war Jørgensen nicht ans Herz gewachsen und heruntergewirtschaftet. Offenbar grade noch rechtzeitig entdeckte es Dr. Leffers.
Die heutigen Besitzer wissen, was sie an der Geschichte und an Hertha Koenig haben. 1994 wurde die Hertha Koenig-Gesellschaft gegründet. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, das lange in Vergessenheit geratene literarische Erbe der Dichterin wieder zu pflegen und in Zusammenarbeit mit Institutionen der Region, Lesungen, Konzerten, Theateraufführungen und Ausstellungen auf dem Gut aufleben zu lassen. Karen Leffers, die gebürtige Hamburgerin und Ehrenbürgerin der Universität Bielefeld, ist heute 2. Vorsitzende der Gesellschaft. Die Frau von Dr. Ernst Leffers hat großen Anteil an dem so weitreichenden Ruf von Gut Böckel. Die alle zwei bis drei Jahre stattfindenden Verleihungen des Hertha Koenig Literaturpreises würdigen herausragende Veröffentlichungen deutschsprachiger Gegenwartsautorinnen in Lyrik oder Prosa. Seit der sehr bekannten Preisträgerin Ulla Hahn 2006 wird ein Teil des Preisgeldes auf Vorschlag von Ulla Hahn als „kleiner“ Hertha Koenig-Förderpreis an Nachwuchsautorin vergeben, die von der Preisträgerin vorgeschlagen werden.
Nun wollen wir aber Rainer Maria Rilke und den Turm nicht vergessen. „Eine Liebesbeziehung war es sicher nicht“, sagt Dr. Leffers dazu. „Mehr wissen wir auch nicht“. 1910 hatte Hertha Koenig Rilke auf einem Fest ihres Verlegers S. Fischer in Berlin kennengelernt. 1917 erholte sich der Dichter einige Wochen auf Gut Böckel, legte dann wohl schnell das ihm zugeschriebene „Zarte, Empfindsame“ ab und eine „brüderliche Heiterkeit“ an den Tag. Den Turm muß er aber wohl bewohnt haben. Die „gelegentlich fauchenden Eulen“ können ihn nicht sehr gestört haben.
Hertha Koenigs Leben ist auch ein Stück deutsche und ostwestfälische Zeitgeschichte. Wir dürfen davon ausgehen, dass sie eine glückliche Zukunft hat, was diesen Flecken westfälischer Erde angeht.
Wie heißt es doch am Ende der „5. Duineser Elegie“?
Engel!: Es wäre ein Platz, den wir nicht wissen, und dorten
auf unsäglichem Teppich, zeigten die Liebenden, die’s hier
bis zum Können nie bringen, ihre kühnen
hohen Figuren des Herzschwungs,
ihre Türme aus Lust, ihre
längst, wo Boden nie war, nur an einander
lehnenden Leitern, bebend, — und könntens,
vor den Zuschauern rings, unzähligen lautlosen Toten:
Würfen die dann ihre letzten, immer ersparten,
immer verborgenen, die wir nicht kennen, ewig
gültigen Münzen des Glücks vor das endlich
wahrhaft lächelnde Paar auf gestilltem
Teppich?
Rainer Maria Rilke hat Hertha Koenig die 5. seiner „Duineser Elegien“ gewidmet. Der Kreis schliesst sich. Mit Kabakovs „Meet the Angel“ im Park von Gut Böckel könnte es gelingen, den Engel zu sehen.
Impuls: Der Weg zur Klarheit führt durch die Unsicherheit
Oft ist es so: Kaum fühlt man sich in etwas wieder sicher, taucht etwas auf,