– Von Königen, Äpfeln und der Unterschiedlichkeit –
Die Sonne, deren Strahlen ich jetzt, Anfang Mai, noch dankbar, nicht so selbstverständlich empfinde wie später im Sommer, scheint durch das große Fenster auf mein Schachbrett. Ich halte einen Becher Kaffee in der Hand, gönne mir eine Verschnaufpause und sinniere. Optimale Zeit für das Düngen meines Kopfsalates! Die Verarbeitung der Bohne ist eine Entdeckung aus dem Königreich Kaffa (Äthiopien), das Schachspiel ist persischen Ursprungs. Beides passt prima für mich zusammen und während ich darüber nachdenke, fällt mir auf, dass auf dem Fußboden sich das quadratische Musterfeld des Schachbretts wiederholt. Ein kleines Gedicht kommt mir in den Sinn, es stammt vom persischen Dichter Omar Chayyam aus dem 11. Jahrhundert:
„Die Welt ist ein Schachbrett, Tag und Nacht geschrägt,
wo das Schicksal Menschen hin und her bewegt.
Sie umeinander schiebt, Schach bietet und schlägt,
und nacheinander einzeln in die Schachtel legt.“
An dieser Stelle wird klar: Mein heutiger Kopfsalat wird vom musivischen Pflaster handeln, so die fachliche Bezeichnung des Schachbretts. Quer durch die Historie und Literatur taucht dieses monochrome Muster immer wieder auf. Weit vor der Entdeckung als Spielfläche, denn die Araber brachten das Schachspiel erst im 13. Jahrhundert von den Persern zu uns nach Europa. Aber bereits im Jahre 440 v. Chr. beschreibt Sophokles das musivische Muster in seinem Drama „Antigone“. Das früheste Auftauchen dieses geometrischen Stils wird in antiken griechischen und römischen Fußbodenmosaiken verortet. Ein Musivum bezeichnet nämlich ein „Bildwerk eingelegter Steine“ und ist der Wortstamm für das Wort Mosaik. Im Talmud bezeichnet der Begriff Mosaik eine Fläche, welche (Zitat) „…die Grundfeste des Tempels deckt“. Im Evangelium des Johannes bildet das musivische Pflaster jenen Boden, auf dem die heute größte Weltreligion ihre Geburtsstunde erlebte. Der Thron, von dem aus Pilatus den Jesus von Nazareth zum Tode am Kreuz verurteilte, trug den hebräischen Namen „Gabbatha“, was übersetzt „Hochpflaster“ bedeutet, ein Name, der damals dem Schachbrettmosaik vorbehalten und politischen Führungskräften zugeeignet war. In der Altstadt von Jerusalem nutzen Pilger bis heute das „Lithostrotos“, ebenfalls ein Musivum, um darauf zu beten. Und natürlich soll auch der Salomonische Tempel dergestalt musivisch ausgestattet gewesen sein. Dieses bicolorige Muster bildete dort mutmaßlich den Weg, den nur die Hohepriester schritten, wie zumindest den Schriften des jüdischen Historikers Flavius Josephus zu entnehmen ist.
Von Beginn an umgab dieses Schachbrettmuster also ein besonderes Fluidum, sein Beschreiten etwas Besonderes. Abseits von Spiritualität, Kultur und Literatur geht man heute davon aus, dass diese quadratischen Felder einfach eine sehr praktikable Messgröße der einstigen Baumeister gewesen sind. So wie in Japan die Tatami, die traditionellen Igusagrasmatten, noch heute die Bezugsgröße für Flächenmaße in der Gebäudearchitektur sind. Die Arten, mit diesen Quadraten zu konstruieren, zu messen und zu kontrollieren, galt über eine sehr lange Zeit als Geheimnis der Baumeister. Noch immer messen wir in Quadratmetern und Quadratfüßen, machen wir es räumlich, wird es zu Kubik, was von Kubus stammt, dem dreidimensionalen Quadrat, dem Würfel. Kein Steinmetz-Zeichen, welches sich nicht ableitete von dieser ewig gültigen Form. Das Quadrat beinhaltet zwei bzw. vier Dreiecke, die Bedeutung der Primzahl 3 ist sowohl in der christlichen Religion (Dreifaltigkeit) als auch in vielen spirituellen Mythen immens. Das Dreieck gilt als Urfigur, welche jedem Quadrat zugrunde liegt. In den meisten alten Kirchen verdeutlicht dies ein Blick hoch an die Decke, das Kreuzgewölbe zerteilt die quadratische Fläche zwischen vier Säulen in ebensoviele Dreiecke. Der Satz des Pythagoras verbindet in der euklidischen Geometrie das Dreieck im Zentrum mit drei Quadraten an den Außenkanten. Damit bildete er neben dem bei Schülern berüchtigten Satz sogar das Lambdoma, die Grundstruktur der Harmonik, welches als die Matrix der gesamten Schöpfung gilt – Die Welt ist Klang (vgl. Nada Brahma). Das Schachbrett verfügt über 64 Felder, die zwei Farbtöne darauf gleichmäßig verteilt. In den Eckpunkten stehen sich jeweils ein schwarzes und ein weißes Quadrat gegenüber. Das führt mich, abseits aller abstrakten geometrischen und mathematischen Überlegungen, zur weiterführenden Frage – was bedeutet dieser Schachbrettboden heute für uns, was macht uns das Musivische in der Moderne erklärbar?
Dunkle und helle Felder wechseln einander absolut paritätisch ab, kein dunkles berührt das Helle und dennoch hängen beide Farbtöne zusammen und dergestalt voneinander ab. So bilden sie grandios komprimiert das universelle Spiel der Gegensätze. Nichts ist wirklich existent ohne seinen jeweiligen Konterpart, Wechselseitigkeit ist der Schlüssel für Ausgewogenheit. Das Messen der Kräfte, zwei Energien bedingen einander, halten sich im Gleichgewicht. Für eine Waage braucht es zwei Positionen, beide Schalen sind unterschiedlich befüllt, benötigen aber gleiches Gewicht, um eine brauchbare Aussage zu treffen. Ausgewogen nennen wir dies deshalb.
Sowohl ein englischer Universalgelehrter als auch ein deutscher Physiker haben hierzu interessante Gedanken erarbeitet. In beiden Fällen spielt ein Apfel die zentrale Rolle, weshalb ich diesen Essay als Hommage auf diese beiden Geistesgrößen auf einem Rechner schrieb, der einen Apfel auf dem Gehäuse trägt. Auch ein Kalauer darf mal Platz im Kopfsalat finden.
Im Jahre 1660 sah Isaac Newton einen Apfel aus einem Baum fallen und fragte sich: Aus welchen Kräften heraus tut die Frucht dies und weshalb jetzt, nicht vorher oder später. Diese Überlegung brachte ihn direkt in das Spiel zweier miteinander ringender Energien. Die Kraft, die den Apfel am Zweig festhält, behauptet sich ununterbrochen gegen die Gravitation, die Schwerkraft, welche den Apfel zu Boden, Richtung Erdmittelpunkt zieht. Durch diese beiden Kräfte hält das Obst lange seine Position, fällt nicht herunter, fliegt nicht davon. Dieses Gleichgewicht erst ermöglicht dem Apfel sein Wachstum! Irgendwann überschreitet seine Masse eine kritische Grenze, was den Sog nach unten gewinnen lässt. Wir betrachten einen Obstbaum und ahnen kaum, dass diese beiden faszinierenden Naturgesetze sich an seinen Ästen hundertfachpermanent in Schach halten, womit sich auch sprachlich der Kreis schließt. Um nicht zu sagen, die Quadratur des Kreises. Ist es in unserem Inneren anders als beim Apfel? Halten sich auch in uns verschiedene Kräfte in Schach? Eine alte Legende indianischen Ursprungs erklärt es mit zwei Wölfen, welche in jedem von uns wohnen. Der dunkle Wolf verfügt über die Kräfte Zorn, Neid, Gier, Überheblichkeit, Vorurteile, Mißtrauen, Gram, Stolz, das Ego. Der helle Wolf wird von Liebe angetrieben, von Hoffnung, Heiterkeit, Wohlwollen, Großzügigkeit, Zutrauen, dem Mitgefühl. Diese beiden Jäger ringen in unserer Seele unentwegt miteinander. Wer von beiden der stärkere ist? Die Antwort der Indianer lautet weise: Es ist jener Wolf, den Du fütterst.
Müssen wir demnach also den dunklen Wolf verdammen, den hellen dagegen erheben? Ich glaube nicht, diese Logik wäre zu simpel, das Leben ist fast immer komplexer. Denn was wären die hellen Flächen des Schachbretts ohne die dunklen, die weißen Figuren ohne die schwarzen? Dieses Spiel funktioniert nur deshalb, weil es beide gibt. Das mag die Botschaft sein, welche uns das musivische Pflaster vor Augen hält. Was tragen Menschen zu meiner Entwicklung bei, die meine Meinung haben, die mir sehr ähnlich sind, die es mir leicht machen, sie zu mögen, ihnen zu folgen? Weitaus mehr lernen kann ich von den anderen, auch über mich selbst. Jene, die mir anstrengend sind, deren Interaktion mir etwas abverlangt. Schwarz und weiß bedingen einander, erst ihr Kontrast zueinander verschafft uns Orientierung und die Möglichkeit zu Interaktion und Wachstum. Und er bietet uns an jedem Tag die Chance, ja sogar den Druck, uns wieder neu zu entscheiden, auf welchem Feld wir selber stehen wollen. Das ist die Matrix unseres Daseins, wieviele Romane, Geschichten und Filme handeln genau davon, vom immer währenden Duell Hell gegen Dunkel? Ein Film nur mit Guten, ein Roman ausschließlich mit Bösen, langweilt. Und in dem sie einander brauchen und überzeugt sind, das Richtige zu tun, ähneln sie einander. Das bekannte Symbol des Daoismus, Yin und Yang, bildet dies semiotisch perfekt ab. Im Kreis umfließen einander nicht nur die schwarze und die weiße Fläche gleichmäßig viskos, sondern sie tragen zudem einen Punkt des anderen in ihrem Zentrum. Grafisch genial auf den Punkt gebracht! In einem alten Lied von Heinz Rudolf Kunze heißt es in einer Zeile: „Das Weiße im Auge des Feindes zu sehen, bedeutet nichts als geduldig vorm Spiegel zu stehen.“.
Wir alle sind uns viel ähnlicher, als wir wahrhaben wollen, als uns recht sein kann. Die Polarität aber ist dennoch unser System, die Dualität unsere Struktur. Anziehung gibt es nur zwischen Plus und Minus, das Prinzip des Magnetismus. Dabei alles möglichst in Balance zu halten, immerfort auszugleichen, ist der Kern der Natur, die natürliche Ordnung, ein Sturm zum Beispiel ist physikalisch der Ausdruck von verschiedenen, sich ausgleichenden Luftdrücken. Was der Frisur schadet, hilft dem Segel. Wie töricht also, das Anderssein zu verteufeln, wie es gegenwärtig wieder in Mode kommt, obgleich bereits überwunden geglaubt. Wir brauchen einander in unserer Unterschiedlichkeit! Albert Einstein erkannte einst genial: „Ein Apfel allein besitzt überhaupt keine Eigenschaften.“ Erst das Erscheinen eines zweiten Apfels lässt diesen ersten groß oder klein, rund oder kantig, lecker oder unschmackhaft, farbig oder blass sein. Zur Bestimmung von uns und von allem brauchen wir den Vergleich, benötigen wir das Andere. Das Schwarz-Weiß-Denken ist uns als Ausdruck geläufig, zwischen diesen Polen aber sind sämtliche Farben zuhause, zwischen den Extremen also ist der sinnvolle Durchgang, zwischen Berg und Abgrund liegt der Mittelweg, der uns Ausgeglichenheit verheißt. Zwischen den Maximalpositionen liegen im Diskurs und jeder Verhandlung die Möglichkeiten! Zwischen heiß und kalt liegt die angenehme Temperatur. Dort hat das Leben seine Heimat, im Mittelpunkt, dort, wo das musivische Pflaster liegt. Schwarz und Weiß sind nur die Leitplanken, die äußeren Begrenzungen im Denken, die Züge der Figuren gehen über die Abgrenzungen der Felder. Um Gutes tun zu können, braucht es das Erkennen des Antipoden. Zuvorderst bei sich selbst, in sich selbst, der andere inspiriert uns dazu, wenn wir es zulassen.
Über dem Orakel von Delphi steht geschrieben: Erkenne Dich selbst! Ich möchte hier erweitern: Erkenne auch Deine Position auf dem Brett, bedenke Deine Züge wohl. Jeder von uns trägt beide Quadrate in sich, beide Wölfe leben in uns, helle wie auch dunkle Figuren bewegen sich in uns. Das musivische Pflaster vermag als Abbild unseres Seins zu dienen. Möge uns dieses Muster, wo immer es uns begegnet, stetig daran erinnern, dass unsere Stärke in der Vielfalt liegt. Den Kontrast aufzugeben, kann nicht wirklich unser Ziel sein, denn Schwarz und Weiß einfach nur vermischt ergibt Grau. Wollen wir wirklich grau sein? Wenn alle identisch sind, ist Harmonie billig zu haben, somit fast ohne Wert. Und schrecklich öde. Auf dem Schachbrett. Und im Leben.
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