Wer die Menschen liebt und die Kommunikation zwischen ihnen, findet überall herrliche Weidegründe für Betrachtung und Inspiration. Wenn ich frischen Input zu brauchen meine, zieht es mich in die Kassenschlange eines Supermarktes, in einen vollen Fahrstuhl oder eine Eisdiele. Auch Wartezimmer sind eine Fundgrube, doch eine gottlob seltene. Überall sind spannende Menschen und überall interagieren sie miteinander. Feldstudien sind jederzeit und überall möglich. Die reichhaltigste Quelle von allen, quasi der Olymp unter den Alltagsunterhaltungen, ist für mich ohne Zweifel der Wochenmarkt. Funkelnde Spritzer an Sprache, glitzernde Formulierungen an frischer Luft, Feuerwerke an kleinen Gesprächen unter freiem Himmel, aber zudem auch ein reichhaltiges Buffet an nonverbaler Kommunikation, Botschaften, welche ohne Worte auskommen. Ich liebe dieses quirlige Konglomerat aus Geschnatter und Gerüchen, optischen Verlockungen und olfaktorischen Verheißungen. Ein Gewusel, Gemenge, stete Verwirbelung, mein wöchentlich schillernder Karneval für die Sinne. Dort bin ich zu gern, schlendere, plaudere, probiere, kaufe, beobachte und lausche.
Bereits die ersten Meter in der Fußgängerzone empfangen mich mit melodiösen Klängen. Ein weißbärtiger Mann hockt auf einem Schemel und intoniert auf einem abgegriffenen Akkordeon das Lied von der schönen, blauen Donau. Man merkt sogleich, dass er dies ungezählte Male tat, denn als unabsichtlicher Kontrast zu jener vergnügten Weise von Strauss verkündet sein ausdrucksloses, beinahe gelangweiltes Gesicht, dass hier eine Dienstleistung routiniert absolviert wird. Dann aber kommt Leben in den Mann. Seine Miene verfinstert sich um einige Grade, als nur drei Schaufenster weiter ein Pärchen voller Verve beginnt, zu Gitarre und Cajon folkloristisches Liedgut aus einer schwer zu definierenden slawischen Heimat zu schmettern. Ich beherrsche ihre Sprache nicht, doch interpretiere ich fabulierend den Inhalt des Stückes als wilde, unerfüllte Liebesgeschichte zwischen einem jungen Heißsporn von Bergpartisan und der disneyhaft anmutigen Bäckerstochter aus einem malerisch kosovarischen Tal. Vermutlich Unsinn, aber ich will glauben, dass es so ist. Die Mimik des Akkordeonspielers macht aus seinem Grimm bezüglich der unerwünschten Konkurrenz im Nahbereich keinerlei Hehl und presst jetzt mehr Phon aus dem Luftbalg vor seinem Brustkorb. Gegen die leidenschaftlichen Schläge der jungen Frau auf das Cajon unter ihrem jeansumspannten Hintern, die von den Fassaden zeitverzögert zurückgeworfen werden, hat er allerdings wenig Chancen. Beide Seiten liefern sich jetzt eine erbitterte Schlacht, unter deren Kakophonie wir Passanten nun leiden müssen. Eine szenische Erinnerung glimmt in mir auf. In einem Kinofilm sah ich einmal zwei große Dinosaurier erbittert miteinander kämpfen, als schließlich ein dreimal so großer Gigant auftauchte und beiden den Garaus machte. Genau dies geschah nun auch hier. Gegenüber von Donaumann und Balkanduo nahm nun eine Truppe ihren großen Claim ein, die ich irgendwo zwischen peruanischen Inkakriegern und Indianerstamm einordnete, eine Art Kelly Family vom Amazonas. Ihr Equipment war beeindruckend, die mit bunten Fransenteppichen behängten, mit bunten Kunststoff-Federn gespickten und Bad-Segeberg-klischeemäßig bemalten Musikanten warteten mit etlichen Torpedos von Mikros, stattlichen Verstärkern und jeder Menge Instrumente auf. Ein satt bestückter Merchandising-Tisch mit professionell aufgemachten CDs bot zentral das Schauspiel akustisch konserviert an. Diese Combo gab alles und fegte klanglich ihre Mitbewerber stampfend vom Terrain wie die Meistermannschaft das Dorfteam. Zeit für mich weiterzuziehen. Ich liebe Musik sehr, mir reicht aber deshalb eine einzige zur gleichen Zeit.
Meine Schritte führen mich zur Wagenburg der Fleischanbieter. Auf diesem Markt sind die Innungen unter sich und konzentrieren sich auf jeweils eigene Areale. Kurios ist, dass einer der vertretenden Metzger keine Besucher hat, die beiden nächsten Fleischhacker um einige wenige buhlen, der vierte jedoch zwei lange Schlangen an seinen Flanken auf sich vereinigt. Entweder gibt es hier etwas kostenlos oder eine andere Attraktion wirkt magnetisch. In dem schlauchartig schmalen Wagen steppen zwei junge Männer in identischem Outfit und Gelfrisur zwischen übervoller Auslage vor sich und hängend schaukelnden Würsten hinter sich. Offensichtlich sind sie Brüder, die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Souverän tanzen sie umeinander, jonglieren gekonnt mit prallrunden Tüten und verlieren selten den Blickkontakt mit den Kunden. Und nie verlässt das gewinnende Grinsen ihre Gesichter, der mit Händen zu greifende Stress perlt an ihnen ab wie Kondenswasser an einer kalten Flasche Bier. Ich nenne sie in Gedanken Tom Cruise und Keanu Reeves, halt in ostwestfälischer Ausführung. Wer aus den Wartegruppen, die wie Wellen an die Kaimauer branden, ein weiblich gegurrtes „Fünf marinierte Nacken bitte“ hört, ahnt, dass es hier um mehr geht als nur Steakeinkauf fürs Grillwochenende. Ich bedaure die drei Mitbewerber, die leider keine Zauberzwillinge aufzuweisen, hier das Nachsehen haben. Eine vortreffliche Kümmelwurst mümmelnd, treibt es mich fort von den Bergen gekeulter Tiere, hin zum knackigen Gemüse. Während dieser nächsten Etappe schneidet sich als schockierendes Intermezzo eine scharfe Stimme direkt in mein Zentralhirn wie eine Kreissäge in Blech. Eine bekittelte Frau, welche von ihrem Typus sicher bereits in den Gründertagen der Stadt ihr gestreiftes Verkaufszelt hier ins Kopfsteinpflaster gerammt hat, befiehlt mir geradezu, sofort mindestens einen Korb mit Beeren zu erwerben, besser mehrere. Denn deren Qualität wurde bislang in hundert Jahren nicht erreicht, der nur heute geforderte, lächerlich niedrige Preis in hundert Jahren nicht mehr verlangt. Während ihre Stimme in nöliger Tonalität den immerselben Kaufbefehl schrill über den Platz fräst, hat sie parallel etliches zu erledigen. Die Beeren-Fanfare verlässt ihre posaunige Kehle eher nebenbei, während sie mit kräftigen Fingern Kartoffeln umschichtet, leere Kisten zielsicher wie ein Basketballspieler unter Klapptische wirft, Möhren mit der Handkante in Formation rollt und sich mit einem Kollegen vom Nachbarstand unterhält, der auf einen Plausch herkam. Ja, tatsächlich, sie führt eine kurze Unterhaltung mit jemandem und zwischen ihren Sätzen wendet sie ihren Kopf in knappen Abständen tourettig von ihm ab und brüllt mark(t)erschütternd. Nahtlos führt sie nach jedem Schrei ihren Dialog in normaler Lautstärke mit dem Mann vom Brotstand ungerührt weiter. Welch spezielle Art von Kommunikation! Unabhängig, ob überhaupt jemand vor ihrem Warenangebot steht, krakeelt sie intervallhaft wie ein Raubtier, das sein Revier akustisch markiert. Ein verfestigtes Ritual, längst automatisiert, vom ursprünglich bewussten Vorgang vor Jahrzehnten abgetrennt. Ob sie später zuhause, mit Familie, aber ohne Beeren, stur weiter kreischt? Verstörende Vorstellung.
Die Strategie des Gemüsehändlers gegenüber ist gänzlich anders. Seine Kunst entfaltet sich leise. Er strahlt einnehmend über das sonnengegerbte Antlitz und seine ganze Haltung vermittelt glaubhaft, an keinem anderen Ort der Welt sein zu wollen. Er charmiert die Interessenten, jede Dame ist ihm eine „Prinzessin“, die er hofiert und umgarnt. Zwischen Kopfsalat und Zucchini zelebriert hier ein wahrer Entertainer, er hat keine Kunden, er begrüßt Gäste. Seine unzähligen Sprüche sind natürlich internalisiert, aber er bringt sie stets, als wäre es das erste Mal. Mich beschleicht der Eindruck, seine Kundschaft ist nicht nur wegen der Rispentomaten hier, sondern ist Publikum, erwirbt mit der Tüte Mangold gleichsam ein Ticket zur Darbietung. Und das Ziehen von Bodenfrüchten ist ihm nur Mittel zum Zweck, bloße Deko seiner Bühne, Umrahmung seiner Show. Die besonders stark gekrümmten Gurken präsentiert er eloquent („…seit 130 Jahren hier!“) zum Beispiel in einem gesonderten Kasten, preist sie als „Lippische Hörnergurken“an, versehen mit dem Hinweis, sie seien von ihm eigens für Radtouren gezüchtet, um die grünen Dinger als proviantischer Energiespender praktisch an den Lenker zu hängen. Zwischendurch drängt er Vorbeieilenden eine leere Tüte als Geschenk auf, mit der Begründung, er hätte versehentlich zu viele davon gekauft. Wenn sie jemand reflexhaft annimmt, was häufig der Fall ist, stopft er mit gazellig flinker Bewegung Gemüse hinein, weil eine leere Tüte ja sinnlos sei, die freie Hand hingestreckt für das fällige Salär. Wer lernen will, wie Marketing funktioniert, ist hier optimal aufgehoben.
Der Wind dreht und und umweht mich mit einer zwar strengen, aber ungeheuer verführerischen Wolke. Die Quelle ist zweifelsohne ein Wagen, so kräftig gelb wie die Ware, welche in seinen Wänden feilgeboten wird. Die emsige Mannschaft im Innern besteht nur aus Köpfen, denn abertausende Käsesorten sind in Kaskaden so dicht gestapelt, dass mir schleierhaft ist, wie eine Bewegung dort drinnen überhaupt möglich ist. Vermutlich positioniert sich das Personal am Sonnenaufgang starr im noch leeren Anhänger und wird von externen Kräften mit Käsen körpernah zugestapelt, erst am Abend wieder freigebaut. Es wird wohl keine Sorte auf dem Planeten geben, welche hier nicht im Portfolio enthalten ist. Es bräuchte Äonen, um aus diesem Käsemeer prüfend auszuwählen. Für ausführliche Kommunikation aber ist hier kaum Zeit, hier werden Kundenwünsche effizient abgearbeitet, niemandem soll mit leeren Händen die Flucht gelingen. Die Käsemenschen wissen der erschlagenden Fülle zum Trotz ohne Verzögerung, wo welcher Laib zu finden ist und verpacken krakenhaft vielarmig die Köstlichkeiten aus geronnener Milch. Parallel erhält jeder Empfangende kompakte Infos zu Herkunft, Geschmacksrichtung, Verwendungsmöglichkeiten sowie Empfehlungen passiger Rebensäfte. Ich bin sprachlos beeindruckt. Ob der Wagenfarbe und der vorherrschenden Arbeitsgeschwindigkeit hege ich allerdings die Befürchtung, ob nicht aus Versehen auch mal ein Karosserieteil zügig in Scheiben geflext und eingetütet wird.
Ein direkt aus einem französischen Küstendorf importiert scheinender Pastaschnitzer jongliert Schöpflöffel in hochgekrempelten Hemdsärmeln und bemehlter Schürze in einem geschmackvollen Anhänger. Links und rechts neben einem herrlichen alten, weiß gestrichenen Küchenschrank befüllt er pittoreske Tässchen mit himmlisch duftendem Espresso, hebt nebenan kleine, selbstgefertigte Teigtaschen aus dem dampfenden Wasser, die dann in großer Geste schwungvoll mit groben Blättern Parmesan („Echter!“) bestreut werden. Ein lukullischer Hochgenuss, der jeden eines besseren belehrt, der Tortelloni bereits hinreichend zu kennen glaubt. Auf jeden provokanten Spruch eines der an wackliger Holztheke Schlemmenden nuschelt er, mit krumm gedrehter Zigarette im Mundwinkel, souverän die bessere Replik aus der rhetorischen Hüfte. Es ist den Stammkunden offenkundig längst ein Sport, immer wieder lustvoll an ihm zu scheitern.
Marktbeschicker sind Künstler, ihr Publikum ist anspruchsvoll. Sie verlangen nicht nur nach Ware, sondern wollen mit Unterhaltung beglückt werden. Und Unterhaltung ist die komplexeste Form von Kommunikation, eine wahre Herausforderung. Wer hier rund um den unsäglich kitschigen, aber gerade darum liebenswerten Brunnen arbeitet, dem ist es Fleisch und Blut geworden. Und Obst. Und Gemüse. Und Blumen. Und Brot. Und Pasta. Hier agieren ausschließlich Profis, eine eingeschworene Gemeinschaft in ihrem Zeltdorf, ihrem gesonderten Kosmos. Pralle Sonne, pappiger Schneematsch, schwallartige Regengüsse, schlagende Windböen – nichts bremst jemals diese Leute. Ist ihr Auditorium da, und sei es nur einer, dann sind sie es auch. Der Einzelhandel täte gut daran, diese kunterbunte Spielwiese als Hort des Lernens klug für sich zu nutzen. Ohren und Gemüt werden hier gesättigt und jeder Magen auch. Was will man mehr. Wer wie ich in Seminaren und Vorträgen Kommunikation lehrt, dem sollte ein regelmäßiger Marktbesuch als unerlässlich zur Vervollkommnung gelten. Was Fachbücher theoretisch vermitteln, füllen die wunderbaren Marktmenschen lässig mit Leben. Ein Glück für mich, dass es so wenige von ihnen gibt. Ich wäre meine Kundschaft los. Und würde als Marktmann arbeiten. Mit Wonne. Guten Morgen, Prinzessin!
Michael Krakow – Seminare / Vorträge / Coaching: www.mikrakom.de
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